Wie sich der heutige Antisemitismus zeigt

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Levin: Die erste Frage, die ich mir gestellt habe, ist: Was sind emanzipatorische Subkulturen? Welche konkreten Beispiele fallen euch dazu ein?

Nicholas: Wir wollten im Grunde verstehen, wie es kommt, dass ausgerechnet Leute oder Gruppen, die sich eigentlich für die Guten halten – die sehen sich auf der richtigen Seite der Geschichte, die sind progressiv, viele verstehen sich als links oder liberal –, sich immer wieder antisemitisch oder judenfeindlich äußern. Der Begriff „Emanzipation“ hat auch viel mit Befreiungskämpfen zu tun. Also zunächst zum Beispiel feministische Bewegungen, die für das Wahlrecht für Frauen gekämpft haben, später aber auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Und das ist der rote Faden durch diese Szenen, die wir in unserem Buch beschreiben. Die alle wollen in irgendeiner Weise für eine bessere, fairere Gesellschaft kämpfen, nur haben sie immer wieder einen blinden Fleck, und zwar wenn es um das Thema Antisemitismus geht. Was wir mit dem Buch fordern ist, dass sie wenigstens konsequent sind und auch Judenhass berücksichtigen, wie sie es mit Sexismus oder Queerfeindlichkeit tun.

Stefan: Beispiele für emanzipatorische Bewegungen, die wir angeschaut haben, sind Fridays for Future und die queere Bewegung. Wir betrachten auch die Klubkultur, HipHop, Hardcore und Punk. Außerdem nehmen wir feministische und antirassistische Bündnisse in den Blick.

Levin: Ihr hattet bei der Buchvorstellung darüber geredet, dass es berechtigt ist, Israel für sein Handeln zu kritisieren. Doch ab wann überschreitet „Israel-Kritik“ die Grenze zum Antisemitismus?

Nicholas: Es kommt darauf an, was genau kritisiert wird. Kritisiert man die Handlung dieser oder jener israelischen Regierung, ist man konkret und sachlich mit der Kritik und kann man diese mit der Kritik von anderen Ländern und Regierungen vergleichen? Oder hat man es mit einer sehr einseitigen Dämonisierung zu tun, die immer wieder bestimmte Metaphern benutzt, welche aus der langen Geschichte des Antisemitismus bekannt sind? Zum Beispiel die Israelis als Teufel, als Ratten oder der einzige jüdische Staat der Welt als eine Art dämonisches Land, das der Inbegriff des Bösen ist. Es kommt immer auf die Frage an, wie man kritisiert, mit welcher Wortwahl, ist es angemessen für die Situation? Oder hat es etwas mit einer pauschalen Ablehnung des Staates zu tun? Sehr oft hört man den Begriff „Israelkritik“. Es geht nicht darum, irgendetwas bestimmtes zu kritisieren, sondern an sich, die bloße Existenz, allein dadurch, dass es diesen einzigen jüdischen Staat der Welt gibt.

Stefan: Ein praktisches Werkzeug, um herauszufinden ob meine Israelkritik nicht doch Antisemitismus ist, ist der sogenannte 3D-Test. Die drei D‘s stehen für Dämonisierung, doppelte Standards und Delegitimierung. Sprich wird Israel dämonisiert, also als das ultimativ Böse dargestellt, als Wurzel allen Übels. Bei den doppelten Standards ist die Frage, ob an Israel andere Standards angelegt werden als an andere Länder. Und die Delegitimierung ist die Infragestellung des Existenzrechts von Israel als solches, als Land. Wenn das zutrifft, wenn diese D‘s da irgendwie drin sind, in der Israelkritik, dann ist sie eben doch antisemitisch.

Levin: Reicht ein D oder müssen es alle drei sein?

Stefan: Das würde ich unterschiedlich bewerten, es kommt drauf an. Wenn ich das Existenzrecht Israels abspreche, dann ist es eben schon in der Regel antisemitisch. Und genauso auch bei der Dämonisierung. Also ja, es reicht auch schon ein D. Je mehr D‘s, desto problematischer.

Milan: Wo liegt der Unterschied zwischen dem Antisemitismus von 1933 und heutzutage?

Nicholas: Antisemitismus fängt nicht erst bei Auschwitz an. Ich glaube, viele Leute denken an eines der schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte gegen Juden und denken, dass alles was drunter fällt nicht antisemitisch ist. Seit dem Nationalsozialismus wollen die allerwenigsten Antisemiten sein. Erwiesene Rechtsextreme sind vor Gericht gezogen, um sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen. Das bedeutet, dass heutzutage der Antisemitismus oft Umwege sucht. Man redet heutzutage ungern oder nicht so offen über „die Juden“. Das heißt aber nicht, dass man nicht auch antisemitisch ist. Heutzutage wird zum Beispiel wahlweise von den bösen Israelis oder von den Globalisten oder Zionisten schwadroniert. Und in allen Fällen sind diese Begriffe oft stellvertretend für „die Juden“, gemeint ist aber dasselbe. Also oft diese Narrative, die Juden seien besonders rachsüchtig, hinterlistig, verfolgen einen bösen Plan. Das gab es schon bei den Nazis, das sieht man aber heutzutage in anderer Form. Wenn man zum Beispiel sagt, die Zionisten seien all diese Dinge und mehr.

Stefan: Genau, und Antisemitismus fängt eben, wie gesagt, nicht bei Auschwitz an, auch weil der moderne Antisemitismus, den wir heute erleben oder auch dieser eliminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten baut auf dem Antijudaismus auf. Er ist sozusagen eine „logische“ Schlussfolgerung aus dem Antijudaismus des Christentums, den es schon seit über 2000 Jahren gibt. Die ersten belegten größeren Pogrome gegen Juden waren tatsächlich christliche. Und zwar zu dem Zeitpunkt, als das Christentum römische Staatsreligion geworden ist, gab es kurze Zeit später das erste Pogrom im heutigen Syrien. Dieses basiert auf einer Erzählung, die genau die gleiche ist, wie wir sie heute noch hören. Nämlich die Behauptung, dass Kinder ermordet worden seien. Und die Person, die damals dazu aufgestachelt hat, war der Bischof von Rakka. Also eine sehr hohe Person in der Kirchenhierarchie, der bis heute als Kirchenvater gilt, also als ganz zentrale Figur in der katholischen Kirche, verantwortlich für das erste jüdische Pogrom.

Maja: Seht ihr Unterschiede des Antisemitismus seit dem siebten Oktober?

Nicholas: Eine große Erscheinungsform von Antisemitismus seit dem siebten Oktober ist aus meiner Sicht vor allem eine fehlende Empathie. Zum Beispiel wenn israelische Zivilisten angegriffen werden, wenn sie gefoltert werden oder als Geiseln nach Gaza geschleppt werden oder einfach nur ermordet werden, darunter auch israelische Frauen und Kinder. Wenn man nicht in der Lage ist, irgendein Mitleid mit denen zu zeigen, nur weil die Israelis oder jüdisch sind, dann ist das für mich schon Antisemitismus. Und diese fehlende Empathie hat mich ziemlich überrascht. Ich hätte gedacht, dass bei so einem schlimmen Massaker, wie es die Hamas am siebten Oktober angerichtet hat, viel mehr Leute Anteilnahme, Solidarität oder auch Verständnis zeigen würden. Aber klar wurde: Für viele Leute ist und bleibt Israel der Endgegner und immer Täter, niemals Opfer und das finde ich sehr problematisch.

Stefan: Ja, und vor allen Dingen eben, wenn man mit Blick auf diese Szenen, die wir anschauen, also auf die emanzipatorischen Szenen, wo es sehr wichtig ist, den Opfern zuzuhören und auch den Opfern generell so zu glauben. Beispielsweise, wenn es um sexualisierte Gewalt, um sexuellen Missbrauch geht, dann ist es selbstverständlich für uns in diesen Szenen, dass man sagt: Natürlich glauben wir den Frauen, denen das passiert ist und die das sagen. Aber es zeigt sich, wir glauben diesen Frauen scheinbar nur so lange, dass es keine Jüdinnen sind. Denn wenn es um sexualisierte Gewalt der Hamas geht, dann wird es in Frage gestellt, was die betroffenen Frauen erzählen und das, finde ich, ist eine Schande.

Levin: Wir sind ja eine Schülerzeitung. Wie können Schulen gegen einen solchen Antisemitismus vorgehen?

Nicholas: Ich glaube, Bildung ist natürlich sehr wichtig. Sich mit der Thematik auseinandersetzen, vielleicht auch Bücher oder Zeitungsartikel zum Thema Antisemitismus lesen. Ich glaube, viele meinen ganz genau aus dem Bauchgefühl heraus zu wissen, was Antisemitismus ist und was nicht, aber das alleine reicht nicht aus. Man muss sich ernsthaft mit der Materie auseinandersetzen und im besten Fall auch das Gespräch suchen, falls ihr jüdische Kommilitonen habt. Gleichzeitig ist es auch wichtig zu betonen, dass das für viele Juden ein sehr sensibles Thema ist, also niemand schuldet euch eine Antwort und es kann vielleicht auch unpassend sein, jüdische Kommilitonen aufzufordern, euch plötzlich über Antisemitismus aufzuklären. Also natürlich nur, wenn das von denen auch gewollt ist. Aber es gibt auch viele Möglichkeiten in Kontakt und ins Gespräch zu kommen mit der jüdischen Community in Deutschland.

Stefan: Und ich glaube, wichtig ist auch zu erkennen, dass Antisemitismus, der Hass auf Juden, ein komplexes Thema ist. Genauso ist der sogenannte Nahost-Konflikt, also der Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern ein komplexes Thema. Ich finde es super wichtig, sich diese Komplexität nicht ausreden zu lassen. Denn das ist, glaube ich, so eine Sache, die viele Aktivisten versuchen. Das versucht wird zu sagen: „Das ist eigentlich gar nicht so kompliziert, da gibt es nur die Guten und da gibt es nur die Bösen. Und die Guten, das sind die Palästinenser und die Bösen, das sind die Israelis“. Und so einfach ist die Geschichte einfach nicht. Das ist, glaube ich, total wichtig und da kann ich auch nur nochmal bekräftigen, was Nicholas gesagt hat. Es geht da auch um so eine Informations- und Medienkompetenz. Es ist wichtig, auch mal Theorie zu lesen oder auch mal einen Text zu lesen. Die Informationen, die man selber konsumiert, nicht so verkürzt zu konsumieren. Klar kann man auch Inspiration in vielen Dingen finden, auf Instagram, auf TikTok oder wie auch immer. Aber ich glaube, man muss einfach sehen, dass viele Informationen, die man da hat, oft ein bisschen verkürzt sind und einfach nicht das ganze Bild zeigen. Ich glaube, gerade wenn man auf diesen Konflikt und auf Antisemitismus schaut, ist es wichtig, ein großes Bild zu haben, um sich eine Meinung bilden zu können.

Levin: Wir bedanken uns bei Stefan Lauer und Nicholas Potter für das Interview.

 

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